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Berufliche Orientierung im Spagat – Chancen und Grenzen der Digitalisierung

Einblicke in das Landesberufsorientierungsprogramm BRAFO in Sachsen-Anhalt

Berufsorientierung passiert längst nicht mehr „nebenbei“, sondern wird systematisch durch Schulen in Zusammenarbeit mit Bildungsdienstleistern, der Bundesagentur für Arbeit und/oder Unternehmen unterstützt. In Sachsen-Anhalt wird Berufsorientierung durch das Landesprogramm BRAFO gefördert. Hier kommen Tests zur Kompetenz- und Interessenserkundung zum Einsatz und Schüler*innen können sich praktisch in Werkstattformaten sowie bei Praktika in Unternehmen ausprobieren. Wie in anderen Bereichen auch, hält in der Berufsorientierung die Digitalisierung Einzug. Sie bietet den Schüler*innen zusätzliche Wege, die vorher nicht oder nur schwer zugänglich waren. So ermöglichen VR-Brillen praxisnah erlebbare Einblicke in verschiedene Berufsfelder. Denn es ist wichtig, den Schüler*innen auch aufzuzeigen, wie die Digitalisierung eingesetzt wird – wie z.B. beim technischen Zeichnen von der Auftragsbearbeitung bis zur Datenübertragung an die ausführenden Maschinen. Dort werden Produkte nicht nur am Reißbrett, sondern auch am Tablet geplant.  Auf diese Weise bekommen Schüler*innen einen realistischen Einblick in eine zunehmend digitalisierte Arbeitswelt. Die seit 2024 beim Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) eingerichtete BRAFO-Netzwerkstelle unterstützt im Rahmen von BRAFO Bildungsdienstleister bei diesen Prozessen. Es werden zum Beispiel eine Übersicht zu digitalen Angeboten zur Berufsorientierung sowie Weiterbildungs- und fachliche Austauschformate mit den umsetzenden Bildungsdienstleistern angeboten. Im Tenor sind sich alle einig: Die virtuellen Angebote bieten neue Chancen für die Berufsorientierung. Doch in den Diskussionen zeigt sich auch, dass es Grenzen gibt – zum Beispiel bei der Umsetzung von Reflexionsgesprächen und bei der Inklusivität von digitalen Angeboten. Was aber ist für einen inklusiven Zugang zu digitalen Angeboten notwendig und warum sind Reflexionsgespräche mit den Schüler*innen im Zusammenhang der Digitalisierung besonders sensibel?

Ein individuelles Feedback für Schüler*innen im Prozess der Berufsorientierung umfasst unter anderem Aspekte, wie die Förderung der Selbstreflexion oder die adressatengerechte Aufbereitung von Ergebnissen, beispielsweise aus psychologischen Testverfahren zu Interessen oder Kompetenzen (nfb – Nationales Forum in Bildung, Beruf und Beschäftigung, 2015). Digitale Möglichkeiten erlauben es unter anderem auch Feedbacks digital in synchroner und asynchroner Weise anzubieten (KMK – Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland, 2021). Aber insbesondere bei asynchronen, also zeitlich versetzen Feedbacks, muss bedacht werden: Bei auftretenden Fragen, Irritationen oder Fehlinterpretationen von Ergebnissen seitens der Schüler*innen ist es in einem digitalen, asynchronen Format erschwert, direkt zu intervenieren und individuell auf die Bedürfnisse der Schüler*innen einzugehen. Um hier im virtuellen Raum ein motivierendes und angemessenes Gespräch zu gestalten, ist von den Berater*innen ein breites Spektrum an methodischen Fähigkeiten und eine hohe Professionalität gefordert (nfb, 2015).

BRAFO wird zu einem hohen Anteil an Förderschulen umgesetzt. Rund 31% der aktuell teilnehmenden Schulen sind Förderschulen und Förderzentren (Stand 05/2024). Der Einsatz digitaler Medien wird für diese Zielgruppe grundsätzlich als Unterstützungsoption angesehen (Lernen ganz individuell: Digitalisierung im Förderzentrum, 2019). Materialien werden durch eine barrierefreie Aufarbeitung besser verständlich oder für manche Zielgruppen überhaupt erst zugänglich. Die Digitalisierung der Berufsorientierung schafft so neue und notwendige Möglichkeiten der Teilhabe. Gleichzeitig sollte allerdings auch bedacht werden, dass sie vorhandene soziale Ungleichheiten verstärken kann (Reidl et al 2020). Im BRAFO-Kontext zeigt sich, dass Schüler*innen mit besonderen Förderbedarfen Auswertungen von computergestützten Testverfahren in Beratungsgesprächen oft weniger gut verstehen, trotz einfacher Sprache und unterstützender Darstellungen. Hier reicht die Digitalisierung allein nicht aus. Im Sinne einer inklusiven und diskriminierungsfreien Gestaltung digitaler Angebote zur Berufsorientierung sollte der Zugang zu Technologie unterstützt und pädagogisch begleitet sowie der Erwerb digitaler Kompetenzen gefördert werden. Auch das eingesetzte Personal muss so geschult und vorbereitet sein, dass Digitalisierung als sicheres Werkzeug (Härle & Eckelt, 2020) nutzbar wird.

An diesen Beispielen wird deutlich: Digitalisierung bringt viel Potenzial zur Verbesserung der Berufsorientierung mit sich. Sie kann aber nicht ohne weiteres auf alle Kontexte und Aufgaben angewandt werden. Der Einsatz digitaler Hilfsmittel muss gut reflektiert, auf die jeweilige Zielgruppe angepasst und durch den Aufbau digitaler Kompetenzen bei allen Beteiligten begleitet werden, damit er seine Potenziale entfalten kann. Das f-bb nutzt diese Erkenntnisse zur Unterstützung bei der Entwicklung neuer Ansätze unter anderem im BRAFO Landesberufsorientierungsprogramm – und gibt sie so wieder direkt in die Praxis zurück.

Das Landesberufsorientierungsprogramm „BRAFO – Berufswahl Richtig Angehen Frühzeitig Orientieren“ wird gefördert aus Mitteln der Europäischen Union des Landes Sachsen-Anhalt, aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit sowie durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. BRAFO - Das Landesberufsorientierungsprogramm (sachsen-anhalt.de)

Literatur:

Härle N., Eckelt M. (2020): Digitalisierung in der beruflichen Bildung – drängender denn je! Thesen aus der Initiative „Chance Ausbildung“. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. S.10.

KMK – Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (2021): Lehren und Lernen in der digitalen Welt. Die ergänzende Empfehlung zur Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ vom 09.12.2021. Bonn: KMK. S. 11. 

Lernen ganz individuell: Digitalisierung im Förderzentrum (2019, 18. Februar) (Onlineartikel).

nfb – Nationales Forum in Bildung, Beruf und Beschäftigung (2015): Beratung im Übergang Schule – Beruf. Positionspapier des Nationalen Forum Beratung (nfb) zum Stellenwert der Beratung im Übergang von der Schule in die weiterführenden Bildungsgänge des Berufsbildungssystem und/oder des Studiums. Berlin: nfb. S. 1.

Reidl S., Streicher J., Hock M., Hausner B., & Waibel G. (2020): DIGITALE UNGLEICHHEIT Wie sie entsteht, was sie bewirkt … und was dagegen hilft. Wien: Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG). S. 20.

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