Newsletter 03/2023

InfoForum 03/2023

Newsletter-anmeldung

jetzt anmelden

Praxiseinblicke, Handwerkparcours und Kita-Elternabende

Berufsorientierung als lebenslangen Prozess gestalten

Welchen Einfluss haben gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Praxiserfahrungen und Eltern auf den Ansatz einer lebenslangen, ganzheitlichen und vernetzten Berufsorientierung? Dieser Frage wurde im Rahmen der Institutskonferenz des Forschungsinstituts Betriebliche Bildung (f-bb) nachgegangen. Prof. Dr. Martin Fischer, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des f-bb, nahm am Workshop teil und brachte sich mit seiner Expertise zur Didaktik der Berufsorientierung in die Diskussion ein.

Der aktuelle Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung verdeutlichen, wie stark gesellschaftliche Rahmenbedingungen berufliche Orientierung beeinflussen. So werden junge Menschen am Berufsübergang allgemein stärker umworben. Oft stehen dabei aber individuelle Berufswünsche und persönliche Ausgangssituationen den vorhandenen Angeboten und Bedarfen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt konträr gegenüber. Die „Passung“ fehlt. Damit individuelles Berufswahlverhalten erfolgreich sein kann, müssen Angebote der beruflichen Orientierung auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen reagieren – ein Spannungsfeld, das zunehmend mehr Berücksichtigung finden muss.

Empirisch lässt sich das auch in den durch das Forschungsinstitut Betriebliche Bildung begleiteten Praxisansätzen und Projekten beobachten: Individuelle Stärken und Interessen sowie die Vielfältigkeit der Berufswelt können am besten in der Praxis entdeckt werden. Neben der theoretischen Berufsorientierung in der Schule und in Beratungen sollten also immer auch praktische Einblicke und Erfahrungen im Fokus beruflicher Orientierung stehen. Sie wirken Stereotypen entgegen, bauen Vorurteile ab, zeigen alternative Berufsbiographien auf und bringen Betriebe und Schüler*innen oder sich neu orientierende Studienabbrecher*innen zusammen (Berger, Baderschneider & Drummer, 2023). Der Ansatz der „entdeckenden Berufsorientierung“ (abgeleitet vom „Entdeckenden Lernen“ nach Jerome S. Bruner) sieht dafür unter anderem Aktionstage, Betriebserkundungen, Praktika oder den Einsatz von Vorbildern vor. Das Projekt „Kurs aufs Handwerk: (Mehr) Mädchen für Handwerksberufe gewinnen“ setzt dabei erfolgreich auf sogenannte Handwerkparcours. Diese finden in bayrischen Schulen im Kontext des „Tag des Handwerks“ statt. Schüler*innen durchlaufen in Kleingruppen einen sechsteiligen

Stationenbetrieb. Gemeinsam mit regionalen Handwerksbetrieben können die Schüler*innen selbst aktiv werden und ihre Fähigkeiten und Interessen erkunden, z. B. im Maurerhandwerk. Auch ein Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung ist hilfreich, um Stereotype aufzubrechen. Die Erfahrung aus der Begleitung des Landesprogramms BRAFO in Sachsen-Anhalt zeigt: in der Praxis wählen Schüler*innen, trotz aktiver Versuche, Klischees abzubauen, weiterhin eher genderstereotype Tätigkeiten. Dabei spielen auch die von Eltern vermittelten berufsbezogenen Wertorientierungen eine Rolle. Es ist hinlänglich bekannt: Eltern sind oft die ersten Ansprechpersonen für ihre Kinder beim Thema Berufsorientierung. Sie eröffnen durch ihre Erfahrung, ihre emotionale und finanzielle Unterstützung sowie ihre Netzwerke erste Spielräume für die Berufswahlentscheidung. Neuenschwander (2020) zeigt auf, dass sich der Einfluss der Eltern auf das Ergebnis des Orientierungsprozesses erhöht, je umfassender sie auf die genannten Ressourcen zurückgreifen. Dabei wünschen sich die meisten Eltern, dass ihr Kind mindestens den gleichen beruflichen Status wie sie selbst erlangt. Das kann förderlich sein, aber auch das Sichtfeld für berufliche Möglichkeiten einschränken und Loyalitätskonflikte entstehen lassen. Junge Menschen passen ihren Berufswunsch den Erwartungen der Eltern an, um Enttäuschungen zu vermeiden. Ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten geraten dabei in den Hintergrund. Viel zu häufig kommt es zu einem späteren Zeitpunkt dann zu einem Abbruch der Ausbildung oder des Studiums (Siembab et al 2023). Um in diesen Situationen eine reflektierte Entscheidung treffen zu können, brauchen junge Menschen eine gestärkte Selbstbeurteilungskompetenz. Zudem müssen sich Eltern über ihren Einfluss bewusst sein und für den ganzheitlichen Orientierungsprozess sensibilisiert werden. Denn sie sind auch künftig eine wichtige Instanz in der Berufsorientierung ihrer Kinder. Elternabende zu neuen Berufsbildern, die über eine reine Information hinausgehen, können dazu ebenso beitragen wie eine bereits sehr früh ansetzende Aufklärungsarbeit zur Arbeitswelt der Zukunft in der Phase der frühkindlichen Bildung. In der Kita-Zeit sind die Eltern noch sehr gut erreichbar.

Der Workshop zeigt: Der Wandel der Arbeitswelt stellt neue Anforderungen an die persönlichen Kompetenzen, zu denen mehr Eigenverantwortlichkeit sowie die Bereitschaft für lebenslanges Lernen und berufliche Umorientierungen gehören. Der Begriff „Berufsorientierung“ suggeriert allerdings einen zeitlich begrenzten Prozess, der mit der Entscheidung für einen Beruf endet. Um den neuen Anforderungen gerecht zu werden, braucht es – so die Einschätzung der f-bb-Expert*innen – neue Begrifflichkeiten sowie didaktische Konzepte, die zum einen dem Ziel der beruflichen Orientierung und zum anderen dem stärkeren Fokus auf die nötigen Kompetenzen gerecht werden. Vorschläge reichen von „Kompetenz- oder Tätigkeitsorientierung“ bis hin zu „berufsbiografischer Gestaltungskompetenz“, wie sie von Martin Fischer bereits 2015 benannt wurde (Fischer et al 2015). Orientierung über die eigenen Kompetenzen und deren Einsatzmöglichkeiten in der Arbeitswelt benötigen – wenn sie als lebenslanger Prozess verstanden werden – immer neue Orientierungsgelegenheiten, die es gut auszugestalten gilt.

 

Literatur:

Berger, N., Baderschneider, A., Drummer, K. (2023). Beratungsleitfaden für eine klischeefreie
Berufsorientierung. Leitfaden zur Gestaltung von Informations- und Beratungsangeboten
unterschiedlicher Zielgruppen. f-bb-online 02/2023. Letzter Zugriff am 27.07.2023: https://www.f-bb.de/fileadmin/user_upload/230503_MIH_Leitfaden.pdf 

Fischer, M., Stoewe, K., Barkholz, S., Follner, M. & Kampa, C. (2015). My Way! Finde deinen Weg“ – ein didaktisches Konzept der schulischen Berufsorientierung als Beitrag zur Förderung berufsbiografischer Gestaltungskompetenz. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online. Ausgabe 27, S. 1-26. Letzter Zugriff am 27.07.2023: http://www.bwpat.de/ausgabe27/fischer_etal_bwpat27.pdf.

Neuenschwander, M. P. (2020). Elternarbeit in der Berufsorientierungsphase. In T. Brüggemann & S. Rahn (Hrsg.), Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (2. Auflage). S. 291-302. Waxmann, Münster.

Siembab, M. Beckmann, J. Wicht, A. (2023) Warum entscheiden sich Jugendliche dazu, ihre Ausbildung vorzeitig zu beenden? BIBB-Report 1 / 2023. https://www.bibb.de/dienst/publikationen/de/19224