InfoForum 02/2023
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Jenseits von Stereotypen
Wie eine klischeefreie Berufsorientierung Jugendlichen hilft, ihre Selbstwirksamkeit zu stärken
Historisch haben Geschlechterstereotype und gesellschaftliche Erwartungen die berufliche Orientierung von Jugendlichen in Deutschland stark beeinflusst. Diese geschlechterbasierten Ungleichheiten in der Berufswahl bestehen bis heute. Zu den Faktoren, die die Berufswahl beeinflussen, gibt es umfangreiche theoretische Modelle. Dornmayr und Riepl (2022, S. 21) verweisen darauf, dass die Erkenntnis aus diesen unterschiedlichen Ansätzen und realen Sozialisationsprozessen häufig sei, „dass sich Frauen (in Summe betrachtet) stärker für Menschen interessieren und Männer stärker für Dinge“. Junge Menschen suchen sich häufig gleichgeschlechtliche Vorbilder, teils aus der Familie, die sich in der Schule, Peergroup oder sozialen Medien verfestigen (Berger 2022, S. 32). An dieser Berufswahl ist zwar nichts auszusetzen, sofern dies den individuellen Wünschen und Stärken entspricht; jedoch geht die Berufswahl häufig mit Vorurteilen zu bestimmten Berufen und Geschlechterstereotypen einher. Dies kann das Ausprägen und Erkennen individueller Fähigkeiten und Interessen hemmen, denn Menschen beginnen meistens nur dann eine Handlung, wenn sie davon überzeugt sind, dass sie diese auch tatsächlich erfolgreich ausführen können. Der Psychologe Bandura prägte dafür den Begriff der Selbstwirksamkeit und konstatierte, dass ohne Selbstwirksamkeit Herausforderungen oft nicht angenommen werden (Bandura 1997). Es besteht deshalb Handlungsbedarf, durch eine frühzeitig ansetzende, klischeefreie Berufsorientierung, Jugendlichen die vielfältigen Möglichkeiten der Ausbildung und des Studiums aufzuzeigen und ihre Selbstwirksamkeit frei von Berufs- und Geschlechterklischees zu stärken.
In Deutschland existieren dazu bereits mehrere Programme. Sie haben zum Ziel, geschlechtsspezifische Unterschiede bei der beruflichen Orientierung zu reduzieren und die Gleichstellung der Geschlechter im Arbeitsleben zu fördern. Neben den bundesweiten Aktionstagen des Girls´ Day und Boys´ Day und den Angeboten der Initiative Klischeefrei gibt es einige hervorzuhebende landesspezifische Initiativen, die durch das Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) fachlich begleitet werden.
Sachsen-Anhalt unterstützt Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern mit seinem Landesberufsorientierungsprogramm BRAFO. Ein auf mehrere Schuljahrgänge abgestimmtes und inklusives Gesamtangebot der Berufsorientierung bietet jungen Menschen ein breites Spektrum mit praktischem Ausprobieren, Kompetenzfeststellung (BRAFO-KE) und begleitender Reflexion. Am Anfang geht es dabei nicht um eine konkrete Berufswahl, sondern um die Erkundung von Interessen und Fähigkeiten in Lebenswelten und diesen zugeordneten Tätigkeitsfeldern. Der Sensibilisierung des pädagogischen Begleitpersonals für eine klischeefreie Berufsorientierung, die durch das Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) unterstützt wird, kommt dabei besondere Bedeutung zu. Denn junge Menschen sollen später Berufe finden, die zu ihren Stärken passen und ihnen Spaß machen – frei von Klischees und Geschlechterzuweisungen.
Die in der Kompetenzfeststellung in der 7. Klasse erfassten Daten wurden durch die fachliche Begleitung des f-bb im Rahmen einer Datenanalyse untersucht. Dabei fällt auf, dass Mädchen ihre eigenen Kompetenzen im Erkundungsbereich, der mit „Mensch und Natur / Technik“ beschrieben ist (Lebenswelt I), deutlich geringer einschätzen (55.59), als das die Ausbildenden in der Fremdeinschätzung tun (76.85). Die durchschnittliche Fremdeinschätzung durch das ausbildende Personal für Mädchen liegt sogar leicht über der Einschätzung für Jungen (76.85 zu 75.09) (siehe Abbildung).
Dieses Phänomen zeigte sich auch in den Daten der letzten Jahre. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, wurde der Ablauf der Kompetenzfeststellung 2022 dahingehend geändert, dass diese nun erst nach der praktischen Erprobung auf Basis der gemachten Selbstwirksamkeitserfahrung erfolgt. Doch anders als erwartet, konnte keine Änderung in der Selbsteinschätzung der Mädchen festgestellt werden. Es zeigte sich aber, dass eine intensivere Betreuung in der „Erkundungsphase“ insbesondere bei Mädchen in einer positiveren Selbstwahrnehmung in den – bislang als „männerdominiert“ markierten – Bereichen resultierte.
Diese Befunde unterstreichen nochmals: Eine klischeefreie Berufsorientierung mit „entdeckenden“ bzw. praktischen Elementen des Ausprobierens kann Mädchen in ihrer Selbstwirksamkeit und ihren selbsteingeschätzten Kompetenzen stärken, ist aber hoch komplex und benötigt einen langen Atem. Zusätzlich kann sich der Einsatz von Role Models positiv auswirken. Auch alternative Bildungs- und Berufswege veranschaulichen die Vielfalt von möglichen Lebensentwürfen und Berufsbiographen, die als Identifikationsfläche dienen können.
Im ebenfalls durch das f-bb begleitete Projekt der Handwerkskammern Niederbayern-Oberpfalz und Oberfranken „Kurs aufs Handwerk: (Mehr) Mädchen für Handwerksberufe gewinnen“ werden hierfür Talentscoutinnen eingesetzt, die im direkten Austausch mit Schülerinnen, Eltern, Lehrkräften und Vertreter*innen von Handwerksbetrieben stehen. Eine mögliche Passung für einen handwerklichen Beruf wird dabei zwar angestrebt, jedoch nicht forciert. Im Zentrum steht eine entdeckende Berufsorientierung, um Mädchen bei ihrer individuellen beruflichen Entwicklung zu fördern und ihre Selbstwirksamkeit zu stärken. Hierfür empfiehlt es sich, sie zu ermutigen, etwas Neues auszuprobieren – beispielsweise durch praktisches Arbeiten bei Aktionstagen oder Praktika. Jedes individuelle Erfolgserlebnis kann zu einer Reflexion über die eigenen Fähigkeiten und Berufspläne beitragen (vgl. Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V. 2019).
Das f-bb unterstützt die Talentscoutinnen durch Konzepte entdeckender Berufsorientierung, wie den „Beratungsleitfaden für eine klischeefreie Berufsorientierung“. Im Projektverlauf wurde deutlich, dass vor allem lebensnahe Role Models, Kooperationen zwischen regionalen Betrieben und Schulen zum Beispiel in Form von Handwerksparkours und das praktische Ausprobieren unterschiedlicher Tätigkeiten von Schülerinnen sehr positiv wahrgenommen wird. Dies kann zu einem breiteren Berufswahlspektrum und einer verstärkten Selbstwirksamkeitserwartung führen.
BRAFO - Berufswahl Richtig Angehen Frühzeitig Orientieren“ richtet sich an Schülerinnen und Schüler aus allen Sekundarschulen, integrierten und kooperativen Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen sowie Förderschulen für Lernbehinderte, für Sinnesgeschädigte, Körper- und Geistigbehinderte. BRAFO wird gefördert aus Mitteln der Europäischen Union des Landes Sachsen-Anhalt, aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit sowie durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Im Projekt „Kurs aufs Handwerk: (Mehr) Mädchen für Handwerksberufe gewinnen“ tragen Talentscoutinnen zu einer klischeefreien und genderneutralen Berufsorientierung, besonders für das Handwerk bei. Sie informieren und beraten Schüler*Innen, Eltern und Lehrkräfte und führen Schüler*innen durch praxisnahe Methoden an handwerkliche Berufe heran. Das Projekt wird vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit, Familie und Soziales im Rahmen des Arbeitsmarktfonds gefördert.
Literatur:
Bandura, Albert (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: W. H. Freeman.
Berger, N. (2022). Gestaltung einer klischeefreien Berufsorientierung für Jugendliche - Ansätze aus der Arbeit mit Mädchen. In: berufsbildung, Zeitschrift für Theorie-Praxis-Dialog (zeitschrift-berufsbildung.de). Gender - Care - Beruf, Dezember 2022, Heft 196. Detmold.
Dornmayr, H. Riepl, M. (2021.) Junge Frauen in technischen Lehrberufen. Die Bedeutung von Kindheitsaktivitäten bei der Berufswahl. Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (bwp) 4/2021, S. 21-25.
Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V. (2019). Girls’ Day und Boys’ Day – klischeefreie Berufsorientierung, die wirkt!